Für viele Menschen ist es schwierig, sich das Erreichen eines grossen Ziels in 20 Jahren vorzustellen – viel einfacher geht das mit kleinen Zielen, die auf der Zeitachse schon nahe sind: Die nächsten Ferien, das neue Auto, die nächste Steuerrechnung. Klar, ich möchte das Leben auch nach der Pensionierung noch geniessen können und muss dafür sparen; aber hey, deshalb will ich doch heute nicht auf allzuviel verzichten, oder?
«100 Prozent erneuerbare Energie für die Schweiz» ist der Titel eines Beitrags, der auf der Plattform Energie-Experten erschienen ist. Er zeigt auf, dass die Energiewende für die Schweiz machbar und bezahlbar wäre, sich langfristig sogar lohnen würde. Ein Facebook-User stellte dazu die Frage, warum es denn trotzdem nicht umgesetzt werde?
Die Angst vor Veränderungen
Man sollte die Hoffnung nie aufgeben, aber bisher ist der Schweizer Klimaschutz wohl daran gescheitert, dass viel über Veränderungen gesprochen wird – was viele Menschen als Bedrohung empfinden –, aber zu wenig über zukünftige Gewinne. Arbeitsplätze und Subventionen, die «verloren» gehen, Gewohnheiten, die sich ändern müssen; das macht Leuten Angst, solange sie einigermassen zufrieden sind.
Die notwendingen Veränderungen sind viel konkreter als der Klimawandel, obwohl dieser eine unendlich viel grössere Gefahr darstellt.
Für viele Menschen ist jede Veränderung erst einmal schlecht, sie sehen darin primär die Risiken und nicht die Chancen. Dabei wäre es doch schlimm, wenn sich nichts ändern würde. Und viel Befürchtungen erweisen sich später als unbegründet. Als Pferde immer beliebter wurden, gab es Berechnungen, die Städte würden bald metertief im Pferdemist versinken. – Versuchen wir einmal, die Perspektive zu wechseln.
Was dank Klimaschutz besser wird
1. Tausende neue Arbeitsplätze
45 Prozent mehr Solaranlagen wurden in der ersten Jahreshälfte 2020 geplant, im Vergleich zum Vorjahr, war den Medien gerade zu entnehmen. [1]
Das ist zwar immer noch viel zu wenig, aber es könnte ja so weitergehen. Und dann bekämen wir allein in der Montage 12’000 neue Arbeitsplätze und dazu gleich nochmals 2000 in der Fachplanung, wie die ZHAW ausgerechnet hat. [2] Weitere Beispiele von Zukunftsbranchen: Digitalisierung, Sanierung von Bestandesbauten, Windmühlenservice.
2. Steuergelder sinnvoller einsetzen
Nur schon die Fliegerei wird in der Schweiz jedes Jahr mit 1,7 Milliarden Franken subventioniert, weil das Kerosin nicht besteuert wird. Daneben profitiert die Flugindustrie gleich auch noch von Null Mehrwertsteuer auf den Flugtickets. Derweil uns der Klimaschutz nur gerade 350 Millionen Franken pro Jahr wert ist. [3] – Was würdest du mit 1,7 Milliarden tun? Würdest du den Betrag auf die ganze Schweizer Wohnbevölkerung verteilen, gäbe das fast 200 Franken pro Kopf und Jahr. Wir könnten aber beispielsweise auch nur 80 Franken auszahlen und dafür eine ganze Milliarde in den Klimaschutz investieren.
Auch die Landwirtschaft wird in der Schweiz Jahr für Jahr mit Milliarden subventioniert. 434 Millionen entfielen im Jahr 2017 auf die Produktions- und Absatzförderung [4], 2018 unterstützte die Allgemeinheit die Entsorgung von Schlachtabfällen mit über 47 Millionen Franken. [5] Auch diese Gelder lenken die Landwirtschaft in die falsche Richtung, sind doch gerade die Nutztiere für einen grossen Teil des Klimawandels verantwortlich. Wenn also auch hier nur schon 250 Millionen für gute Zwecke freigemacht werden – wem würdest du diese geben?
3. Wir werden unabhängiger
Als Schweiz, aber auch als Konsumenten werden wir durch den Ausstieg aus fossilen Energien unabhängiger. Die Schweiz bezieht heute mehr als 60 Prozent der Energie aus dem Ausland in Form von Erdöl und Erdgas. [6] Könnten wir unsere ganze Energie im Inland erzeugen, müssten wir keine dubiosen Regimes und Despoten mehr unterstützen, indem wir ihnen diese abkaufen.
Mit in der Nähe produziertem Strom und dem Zusammenschluss von Konsumentinnen für den Eigenverbrauch werden wir unabhängiger von Energiekonzernen und von schwankenden Marktpreisen. Und wir können selber Verantwortung übernehmen für die Versorgungssicherheit im Winter, wenn dereinst in ganz Europa Stromknappheit herrschen wird.
Unsere Landwirtschaft würde durch kleinere Viehbestände unabhängiger von Futtermittelimporten. Subventionen müssten unsere Bauernbetriebe sicher weiterhin bekommen, aber doch sicher lieber für Aufgaben, die der Biodiversität und dem Klimaschutz dienen, statt für solche, welche die Erderhitzung beschleunigen.
Neue Qualitäten entdecken
Dass Ferien in der Nähe erholsamer sein können als Flugreisen und Kreuzfahrten, haben jetzt dank Corona viele am eigenen Leib erfahren. Warum sollte das nicht so bleiben? Dass neue Jobs in neuen Branchen entstehen werden, während alte wegfallen, das wirkt für viele bedrohlich. Und einige gefährdete Branchen haben eine starke Lobby in der Politik. Es ist aber nichts Neues, auch die Industrialisierung und die Informatik führten zu Umbrüchen auf dem Arbeitsmarkt, genauso wie das Internet.
Diesen Entwicklungen ist es zu verdanken, dass wir heute viel mehr Freizeit haben als frühere Generationen. Noch weniger arbeiten, ist eine weitere Option, die wir gründlich durchdenken sollten. Ja, weniger Geld wäre wohl eine Auswirkung davon, aber wie wichtig ist das wirklich? Wäre mehr Zeit für soziale Kontakte oder für Hobbys nicht mindestens so wertvoll?
Kann die Schweiz das alleine machen?
Häufig kommt gegen Veränderungen noch dass Argument der internationalen Märkte, ein Alleingang der Schweiz sei sinnlos, dumm oder gefährlich. Damit kann man viele gute Ideen killen. Dabei könnte es sich gerade die reiche Schweiz gut leisten, als Vorbild voranzugehen.
Unser heutiger Wohlstand basiert darauf, dass Menschen und Umwelt andernorts ausgebeutet werden. Wir sind es der Welt geradezu schuldig, zu beweisen, dass wir es besser machen und etwas zurückgeben können.
Übrigens ist die Schweiz heute in vielen Dingen längst nicht mehr Vorreiter, sondern hinkt anderen Ländern hinterher.
Es ist kein Entweder-Oder
Wie ist das jetzt mit der im Titel gestellten Frage? Wenn es darum geht, die Erde möglichst lebenswert zu erhalten, müssen wir uns von der Vorstellung der 100 Prozent, die wir heute kennen, verabschieden. Denn mit dem globalen Temperaturanstieg ist eine Zunahme von Naturkatastrophen und Hungersnöten schon jetzt unvermeidlich. Riffe sterben, Gletscher schmelzen. Wir müssen den schnellsten Weg finden, um auf Null Prozent zu kommen. Null fossile Energie. Dafür braucht es grosse Veränderungen, und diese können wir positiv gestalten. Fangen wir jetzt gleich damit an, indem wir unsere Verlustangst in Freude auf Neues verwandeln.
Die eigene Irrationalität austricksen
Was wir haben, erscheint uns viel wertvoller, als was wir haben könnten, der Grund liegt in der Verlustangst. Dan Ariely erklärt das gut (Video in Englisch).
die selbsterfüllende Prophezeiung
Wenn wir uns ein Ziel setzen, uns immer wieder damit beschäftigen, uns bildlich vorstellen, wie es sein wird, wenn wir es erreicht haben, und uns täglich mit dem nächsten Schritt in Richtung Ziel beschäftigen, dann können wir uns dieses Ergebnis schon im Voraus so zu eigen machen, dass wir es auf keinen Fall wieder verlieren wollen. Auch wenn solche Ziele noch so schwierig zu erreichen sein mögen – mit genügend Vorstellungs- und Willenskraft werden sie Realität.
Mehr Arbeitsplätze, mehr Geld für Sinnvolles und mehr Unabhängigkeit, das sind doch Ziele, für die es sich zu arbeiten und zu kämpfen lohnt.
Stell dir das einmal vor!
Los, denk an das für dich persönlich wichtigste Ziel. Führe dir vor Augen, wie es sein wird, wenn du es erreicht hast. Wie wird es riechen? Wie wird es sich anfühlen? Woran wirst du merken, dass es Tatsache geworden ist? Denk es beim Einschlafen nochmals durch. Und mach dann den nächsten Schritt. Es kann auch ein kleiner sein. Dafür folgt dann am Tag darauf gleich der nächste. Und dann nochmal einer. Und noch einer …
Quellen
[1] https://www.tagesanzeiger.ch/mitten-in-der-krise-fotovoltaik-erlebt-einen-boom-815504306525
[2] https://www.energiestiftung.ch/medienmitteilung/jobmotor-photovoltaik.html
[3] https://www.srf.ch/news/wirtschaft/500-milliarden-subventionen-soll-benzin-billig-bleiben-oder-nicht-2 und https://www.greenpeace.ch/de/story/20771/das-fliegen-darf-nicht-laenger-subventioniert-werden/
[4] https://www.economiesuisse.ch/de/dossier-politik/wie-wird-die-landwirtschaft-der-schweiz-subventioniert
[5] https://www.agrarbericht.ch/de/politik/produktion-und-absatz/viehwirtschaft
[6] https://www.bfe.admin.ch/bfe/de/home/versorgung/statistik-und-geodaten/energiestatistiken/gesamtenergiestatistik.html