Wenn die Steinzeitmenschen mit Atomstrom experimentiert hätten…

Masse, Euro, Jahre: Ein paar Gedanken über Zahlen im Zusammenhang mit Tschernobyl – und warum das atomare Vermächtnis noch Hunderte von Generationen beschäftigen wird.

Artikel von Barbara Saladin, Ausgabe 1/17 der solarspar Zeitung. Mit freundlicher Genehmigung der Autorin.

Wenige Monate ist es her, dass das Schweizer Stimmvolk die Chance auf einen geordneten Atomausstieg nicht gepackt hat. Damit ist die zukünftige Laufzeit unserer alten Schrottreaktoren weiterhin unklar, und eine Lösung des Problems ist nicht in Sicht. Derweilen läuft die Zeit. Wenigstens unsere.

Wir alle kennen das Gefühl, dass uns die Zeit nur so durch die Finger rinnt. Ein Mensch hat in der Schweiz im Durchschnitt gut 82 Jahre Lebenszeit zur Verfügung, danach ist fertig. Radioaktivität kennt dieses Problem nicht. Denn Radioaktivität hat alle Zeit der Welt.

Werfen wir einen Blick nach Tschernobyl: Bald 31 Jahre ist es nun her, dass sich der grösste GAU in der Geschichte der Nuklearindustrie ereignete und das Leben Tausender Menschen zerstörte. Ende November 2016 wurde nach sechsjähriger Bauzeit eine neue Schutzhülle für den Unglücks-Reaktor 4 des AKW Tschernobyl fertig gestellt. Diese ersetzt den bisherigen provisorischen Sarkophag, der kurz nach der Katastrophe gebaut worden war, und gilt als grösstes bewegliches Bauwerk der Welt. Allein die Metallhülle des 110 Meter hohen Sarkophags wiegt dreimal so viel wie der Eiffelturm. Das Gebäude, das die Aussenwelt vor der Strahlung schützen soll, hat eine Fläche von zwölf Fussballfeldern und kostete anderthalb Milliarden Euro.

Damit ist die Gefahr aber noch keineswegs gebannt, denn die Wissenschaft ist noch nicht so weit, dass sie weiss, wie die strahlende Ruine fachgerecht zu entsorgen ist. So bedauerten Forscher gegenüber Medien, dass es noch keine Roboter gebe, die im Innern des Reaktorblocks 4 aufräumen können, ohne kaputt zu gehen. Von Menschen gar nicht zu reden.

Auch heute, bald 31 Jahre nach der Katastrophe, sind 95 Prozent der damaligen Strahlkraft des schadhaften Reaktors noch da. Die Halbwertszeit des tödlichen Cocktails aus schätzungsweise 193 Tonnen Uran, Strontium, Cäsium und Plutonium variiert stark. Sie liegt je nach Stoff zwischen 14 und gut 6500 Jahren. Das heisst, dass der „schnelllebigste“ Teil der tödlichen Mischung von Tschernobyl bereits im Jahr 2 000 nur noch halb so stark strahlte wie im April 1986. So weit, so gut. Doch dies ist die Ausnahme. Denn der langlebigste Teil wird seine Halbwertszeit ums Jahr 8500 erreichen. Wäre die Katastrophe von Tschernobyl also in der Jungsteinzeit passiert, wäre die Halbwertszeit heute ungefähr erreicht, und wir müssten uns „nur“ noch mit der Hälfte eines letalen Vermächtnisses herumschlagen, dessen Sinn und Nutzen wir nie zu Gesicht bekommen hätten.

Genau so wird es Hunderten von Menschengenerationen nach uns ergehen, die sich mit immer neuen Sarkophagen beschäftigen müssen, auch wenn sie das Licht der Welt erst Jahrtausende nach uns erblicken werden. Nur zur Erinnerung: Auch die Frage eines sicheren Endlagers für radioaktiven Müll, der ganz normal und alltäglich bei der zivilen Nutzung anfällt, ist noch nicht geklärt.

Besonders langlebig ist übrigens Uran 238, das man in Brutreaktoren verwenden kann, um Plutonium herzustellen, und das eine Halbwertszeit von viereinhalb Milliarden Jahren hat. Mit anderen Worten:

Hätte es im Zeitalter des Hadaikum, kurz nach dem Urknall, bereits einen atomaren Super-GAU gegeben, wäre ungefähr heute die Halbwertszeit erreicht.

Affe und Atom

Die Atomkraft hinterlässt ein letales Erbe für Generationen, die das Licht der Welt erst Jahrtausende nach uns erblicken werden.

Autor: Roger Schuhmacher

Umweltschützer, Fan von neuen Wegen und gemeinsam erreichten Zielen.

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